Herbert Marcuse: DER EINDIMENSIONALE MENSCH,
daraus das Kapitel:
 
Die neuen Formen der Kontrolle

Rückblickend geschätzt: Januar 1984

(Sehr nah am Text)

Die gegenwärtigen Industriegesellschaften bewegen sich in fundamentalen Widersprüchen. Prosperität findet unter der beständigen Drohung der atomaren Katastrophe statt. Wohlstand einerseits ist mit beständig fortschreitender Destruktion der Natur andererseits verbunden. Und der technische Fortschritt als Möglichkeit eines freien Lebens liefert gleichzeitig die Mittel zur vollendeten Perfektion der Herrschaftsapparate in Ost und West.
Eine kritische Theorie der Industriegesellschaft muß sich als Ursachenforschung dieser Phänomene begreifen. [ ... ]
Die Gesellschaften, die wir zur fortgeschrittenen industriellen Zivilisation zählen, sind durch und durch unfrei. Die traditionellen bürgerlichen FREIHEITEN, deren Inhalte zu Beginn ihrer Proklamierung wesentlich in ihrer kritischen Punktion bestimmt waren, haben ihre VERNUNFTbasis verloren. Unter den Bedingungen allgemein steigenden Lebensstandards scheinen Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit als oppositionelle Freiheiten sinnlos zu werden, mehr, Opposition selbst scheint sinnlos zu werden.
Die bürgerliche Freiheit des Unternehmens bedeutete für die große Mehrheit der Bevölkerung die Freiheit der Wahl zwischen Arbeit und Verhungern früher, bedeutet die zwischen Arbeit und Vegetieren am Rande des Existenzminimums heute. Dabei wäre Freiheit vom Zwang zur Arbeit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation. [ ... ]
Die faktische Tendenz weist in die entgegengesetzte Richtung: Dieses bestimmte und bestimmende Produktions- und Verteilungssystem zeichnet sich durch einen Hang zum Totalitären aus. Denn Totalitarismus ist keine Erscheinung, die durch manifest terroristische Herrschaftsformen schon ausreichend charakterisiert wäre. Es ist ebenso eine Form von Totalitarismus, wenn in einem Gesellschaftssystem sich die herrschenden Interessen vornehmlich durch manipulative Gleichschaltung von BEDÜRFNISSEN geltend machen. [ ... ]

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Herbert Marcuse