Jan Ross

Die neuen Sophisten

Am 20. Januar 2002 startet im ZDF das "Philosophische Quartett" - das halbseidene geistige Schaugewerbe hat Hochkonjunktur


Gandhi AG wäre ein seltsamer Name für einen Rüstungskonzern, und ein Unterhaltungsprogramm im Privatfernsehen würde man kaum den Kafka-Kanal taufen. Ähnlich paradox steht es mit dem Verhältnis von Wesen und Bezeichnung bei der Firma Plato Kommunikation in Berlin. Plato ist ein Ableger der angesehenen Werbeagentur Scholz & Friends, und Platos Metier ist die "politische Kommunikation" - was zum Beispiel heißen mag, dass man der deutschen Öffentlichkeit im Auftrag des Familienministeriums ein neues Väterbild vermittelt oder Staatssekretär Mosdorf zum Thema "Zukunftsbranche Mobilfunk - Wachstumschancen und Herausforderungen" sprechen lässt. Mehr salonhafte Veranstaltungen wie das "Plato Dinner" (ein "politisches Abendessen mit Unternehmerinnen und Unternehmern sowie einem Exklusivgast aus der Landes-, Bundes- oder Europapolitik") dienen dem Austausch und der Beziehungspflege im Hauptstadtmilieu. Man versteht schon, wie die Unternehmensgründer auf ihren Namenspatron verfallen sind; Platon (so heißt er auf Griechisch) hat seine Philosophie bekanntlich in Dialogen niedergelegt, den Staatsangelegenheiten war er auch zugewandt, und so mochte er zum Maskottchen der "politischen Kommunikation" geeignet scheinen. In Wirklichkeit aber ist Platon ein Gewährsmann von ganz anderer Tendenz für das politische Werbe- und Beratungswesen, für die Welt der PR-Experten, spin doctors und Kampagnenplaner, die neuerdings zwischen Wählern und Gewählten, zwischen Interessenten und "Entscheidern" ihren vielfältigen Vermittlungsgeschäften nachgehen. Ein solches Mischphänomen von Macht, Geld und Wissen hat es nämlich auch im antiken Griechenland schon gegeben, und Platon war es, der diese Erscheinung besonders einprägsam beschrieben - und unnachsichtig gegeißelt hat. Die Rede ist von der Sophistik.

Der Auftritt des Prunkredners

Die Sophisten traten gegen Ende des 5. vorchristlichen Jahrhunderts auf, als Wanderlehrer, die mit großer Publicity von Stadt zu Stadt zogen, um für viel Geld ihren Unterricht anzubieten, in Dichterinterpretation, Grammatik oder Naturkunde. Vor allem aber brachten sie politisch ehrgeizigen jungen Männern Rhetorik bei - in einer Gesellschaft der Mündlichkeit und des Live-Auftritts vor einer überschaubaren Bürgerschaft war die Redekunst, was heute die Fernsehtauglichkeit ist, und der Sophist eine Art Media- Consultant und TVTrainer des klassischen Altertums. Politikberater war er von Zeit zu Zeit auch. So hat der berühmte Protagoras von Abdera für den athenischen Staatsmann Perikles die Verfassung der Stadt Thurioi entworfen, einer auf dem Reißbrett konstruierten Kolonie und Mustersiedlung in Süditalien.

Mit ihrer neuartigen Kombination von Show und Expertise warfen die Sophisten das hergebrachte politische Leben durcheinander, machten sich in den Augen von Traditionalisten als Verderber der Jugend verdächtig und erreichten in der panhellenischen Öffentlichkeit Star- und Kultstatus. In Platons Dialog Protagoras begegnen wir einem Jüngling, der am Abend von der Ankunft des großen Mannes in Athen erfahren hat, die Nacht über kaum schlafen kann und schon im Morgengrauen seinen Freund Sokrates mit der aufgeregten Frage aus dem Bett holt, wie man um Himmels willen Protagoras-Schüler wird. "Es gebricht der modernen Welt an genau zutreffenden Parallelen", meinte der Altphilologe und Philosophiehistoriker Theodor Gomperz 1909 in seinen Griechischen Denkern, und wählte dann den Vergleich: "Halb Professor und halb Journalist - durch diese Formel lässt sich der Sophist des fünften Jahrhunderts unserem Verständnis vielleicht am nächsten bringen." Heute mag man sagen: Mit der Sophistik fing die Mediengesellschaft an.

Denn die Medien sind das Reich der Vermittlung, des Indirekten, auch von Täuschung und Illusion, und die Entdeckung dieser Welt des Scheins war die eigentliche Großtat der Sophisten. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge", lautet der bekannteste Satz des Protagoras, und daher galt für ihn: "Wie alles mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so ist es für dich." Die Wirklichkeit ist nicht einfach gegeben, sondern eine Frage der Perspektive; es kommt darauf an, wie man sie ansieht und darstellt: "Über jede Sache gibt es zwei Reden, die einander gegenüberstehen." Der geschulte Rhetor kann je nachdem pro oder contra plädieren, und er wird auch dann die Oberhand behalten, wenn er zunächst die schlechteren Karten hat - "die schwächere Sache zur stärkeren machen", wie Protagoras seinen Schülern versprach.

Die Sophisten haben Meinungen und Gefühle als Gegenstände der Manipulation erkannt, aber auch als Größen, mit denen man rechnen muss; sie sind die Stammväter der Propaganda wie der Demoskopie. Das moderne politische Marketing, das in der sozialdemokratischen Kampagne von 1998 so bestaunt wurde und das die Wahlauseinandersetzung in diesem Jahr auf allen Seiten prägen wird, die passgenaue Fertigung von Slogans und Images, das Wechselspiel von Pulsfühlen und Aufputschen, von Stimmungstest und Stimmungsmache - das alles ist angewandte Sophistik. Schon Heiner Geißler, der Altmeister professioneller Themensetzung und Wahlkampfführung in der Bundesrepublik, pflegte gern den Satz eines griechischen Autors zu zitieren, der den Geist der Sophistik atmet: "Nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über die Tatsachen bewegen die Menschen."

Die Neosophistik unserer Tage findet aber keineswegs bloß im politikbegleitenden Vermarktungs- und Manipulationsgeschäft statt. Auch von der anderen Seite her, von Wissenschaft und Reflexion aus, ist der Prozess der Sophistisierung im Gange. Das Philosophische Quartett im ZDF, zu dem Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski am kommenden Sonntag zum ersten Mal einladen, ist natürlich eine eminent sophistische Veranstaltung, ein Akt des geistigen Schaugewerbes. Sloterdijk war im vergangenen Herbst als Referent auf dem "Gesellschaftspolitischen Forum" des Bankenverbandes zu hören - ein Auftritt durchaus in der Prunkredentradition der Protagoras, Hippias, Prodikos e tutti quanti. Safranskis philosophische Schriftstellerei, über Heidegger oder Nietzsche, ein höchst lobenswertes Bildungsunternehmen, mag doch zugleich von ferne an die populäre Produktion der Sophisten erinnern, als verdauliches und marktgängiges Gedankenwerk.

Sophistisch tätig sind die Professoren, die regelmäßig auf dem Bildschirm erscheinen, um Wahlergebnisse oder Zivilisationskonflikte zu erklären, je nach Sendungsformat in 30 Sekunden oder einer Viertelstunde, im lebhaften Talkshow-Schlagabtausch oder im besinnlichen Expertengespräch. Und auch eine Einrichtung wie der Nationale Ethikrat zu den Problemen der Biotechnologie weist typische Züge der Sophistik auf, ihr eigentümliches Schwimmen, Schweben und Gleiten zwischen Theorie und Praxis, zwischen Hörsaalautorität und Thronratsehrgeiz - ein semipolitisches Spiegelkabinett, in dem die Macht sich ein intellektuelles Ansehen verschafft und der Geist das Gefühl von Relevanz und Einfluss genießen darf.

Schon Platon zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten wie ein moderner Kulturkritiker indigniert über die Vermengung von Gedanke und Geschäft, über die Kommerzialisierung des Geistes. Da hatte er freilich gut reden, denn er stammte aus einer der vornehmsten Familien Athens, und Sokrates, sein verehrter Lehrer und der Held seiner Dialoge, war materiell notorisch anspruchslos und konnte sich im Übrigen auf die Großzügigkeit vermögender Gönner verlassen. Auch der scharfe Blick, den Platon für die Korruption des Denkens durch Ehrgeiz und Machtnähe besaß, war nicht ganz unschuldig. Er selbst lehrte, dass die Philosophen herrschen sollten, und einmal unternahm er als Prinzenerzieher und Tyrannenberater im sizilischen Syrakus sogar einen praktischen Versuch in dieser Richtung, der kläglich scheiterte - so ganz fremd werden ihm das Selbstgefühl und der Wirkungswille nicht gewesen sein, die er an den Sophisten als vulgär verachtete.

Ende des Wahrheitsglaubens

Aber letztlich war Platons Kritik weniger moralisch als intellektuell. Sie zielte auf den Schein- und Surrogatcharakter der sophistischen Welt, auf ein Tun und Treiben, das nicht wirklich Erkenntnis, nicht wirklich Politik, nicht wirklich Kunst ist, sondern von allem etwas, ein Wechselbalg aus Ideologie und Unterhaltung - genau das also, was man erblickt, wenn man heute den Fernseher anschaltet. In Platons Gorgias macht Sokrates die Bedenklichkeit dieser Trugsphäre nach seiner Gewohnheit mit einem Vergleich deutlich: Zur Sorge für die menschliche Gesundheit sind Medizin und Sport geeignet. Dazu aber gibt es, als schattenhafte Konkurrenz gewissermaßen, zwei entsprechende Afterfertigkeiten, die gleichfalls zu wissen behaupten, wie man mit dem Körper umgehen muss: Kochkunst und Kosmetik. Wer sich auf die verlässt, ist allerdings am Ende übel dran, fett und krank und hässlich, weil sie ihm die bittere Wahrheit nicht zumuten, sondern etwas vormachen. Was nun Sport und Medizin für den Körper des Menschen sind, das sind Politik und Recht für seine Seele. Und die Sophisterei ist die zugehörige Schummelvariante und Mogelpackung, die Kochkunst und Kosmetik des Geistes.

Platons Urteil über die Sophisten hat ihr Bild über die Jahrtausende hinweg bestimmt; der Begriff ist anrüchig, ja zum Schimpfwort geworden. Versuche zur Ehrenrettung waren selten; der oben zitierte Theodor Gomperz zum Beispiel hat einen unternommen und Protagoras und seine Kollegen als Aufklärer rehabilitieren wollen. Im 20. Jahrhundert war es dann eher Platon, der in Misskredit kam, und zwar genau mit jenem Wahrheitsglauben, den er dem Relativismus der Sophisten entgegengesetzt hatte. Ist der Dogmatiker nicht viel gefährlicher als der Gaukler? Karl Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1943 erschienen, griff neben Marx auch Platon als Vorläufer des Totalitarismus an, als doktrinären Gegner von Freiheit, Vielfalt und Veränderung. Es war derselbe Impuls, der später auch André Glucksmann gegen die "Meisterdenker" polemisieren ließ, gegen die Anmaßung von Erkenntnismonopolen und philosophisch untermauerten Allmachtsansprüchen. Der Platonismus konnte nun als Wegbereiter für Ideologieherrscher à la Hitler und Stalin gelten und die Sophistik als bunte Debattenkultur einer toleranten Demokratie.

Doch das ist mittlerweile auch schon das Thema eines vergangenen Jahrhunderts. Die Hybris von Denkern, die absolute Wahrheit beanspruchen und ihre Mitmenschen damit knechten wollen, braucht man zumindest in den Flimmer- und Schnatterwelten des Westens nicht länger zu fürchten. Platon ist keine Gefahr mehr für die offene Gesellschaft, die Philosophenkönige haben abgedankt. Aber die Sophisten schießen wieder sehr ins Kraut.


DIE ZEIT vom 17. Januar 2002
© Jan Ross. Alle Rechte beim Autor. Hier mit seiner freundlichen Genehmigung.

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